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„Wir gehen in den Kochclub“

Vom einfachen Tassenkuchen zum Backbuch – Hauswirtschaftsmeisterin Ulrike Lehnhardt entwickelte mit einem Hersteller für Becher ein Backbuch, für ihre Meisterarbeit folgte nun auch ein Kochbuch für Bewohner/innen in Heimen.

Schon als Küchenleiterin hat Ulrike Lehnhardt sehr darauf geachtet, möglichst jeden Tag in den Wohnbereichen präsent zu sein. So wurden zu ihrer Zeit das Frühstück und das Abendessen stets vor den Augen der Bewohner/innen vorbereitet. „Am Ende kannte ich jeden der 56 Langzeitbewohner mit Namen“, sagte Lehnhardt.

Es gab zwar einen sozialen Dienst und auch zusätzliche 87b-Kräfte, aber die Betreuung lief teilweise nicht optimal ab: die Gruppen waren oftmals einfach zu groß. Zudem war der Geräuschpegel zu hoch, denn beispielsweise beim Backen liefen nebenher Fernseher und Radio und laute Küchengeräte wie die Küchenmaschine oder das Handrührgerät wurden benutzt. „Und als dann aus Unachtsamkeit auch noch zu viel Backpulver in Muffins verbacken wurde und diese im Ofen regelrecht explodierten, wusste ich: hier müssen wir was tun.“

Hinzu kam, dass einige der Bewohner an Gewicht verloren, ein Folgeproblem bei Demenz. So forderte die Pflegedienstleitung die Hauswirtschafterin auf: Machen Sie doch bitte etwas! „Natürlich hätte ich sagen können, wir rühren einfach Maltodextrin oder Nahrungsergänzungsmittel in die Speisen ein und erhöhen so den Kaloriengehalt. Aber für mich war das nicht die richtige Lösung. Ich wollte, dass die Bewohner von alleine wieder Freude am Essen zurück gewinnen“, so Lehnhardt.

Die schlüssige Idee vom Tassenkuchen
„Wir müssen die Bewohner locken“, sagte sie und begann im Juli 2012 ihre Meisterarbeit mit einem außergewöhnlichen Koch- und Backprojekt. Jeden Samstagmorgen trafen sich über ein halbes Jahr lang stets die vier selben Bewohner und haben zusammen gekocht und gebacken. Doch wie konnte das gelingen? „Ich habe mich daran erinnert, dass meine Tochter ja schon mit acht Jahren Tassenkuchen gebacken hat, also Mehl, Butter, Milch und die anderen Zutaten mit Tassenvolumen ohne Waage bestimmt hat.“

Und dies hat Ulrike Lehnhardt nun auf Menschen mit Demenz übertragen. Sie hat die Lebensmittelmengen umgerechnet auf Tassenportionen und das Unternehmen Ornamin gebeten, sie dabei zu unterstützen. Das Unternehmen reagierte prompt und hat mit ihr am Ende sogar eine Back-Box (Herbst 2013) und eine Kochbox (Frühjahr 2014) entwickelt, die sogar auf der Altenpflege-Messe 2014 für den Innovationspreis nominiert wurde.

Dafür musste Einiges beachtet werden. Mit dem Tassensystem kann kein Biskuitteig gebacken werden, denn bei dem kommt es auf jedes Gramm an. Bei Rührteig oder Mürbeteig ist es einfacher. „Wenn dort 20 Gramm zu viel in der Tasse gelandet sind, dann geht es trotzdem nicht schief“, so Lehnhardt. Sie hat die Rezepte dann so nivelliert und angepasst, dass ein gewisser Spielraum möglich ist.

Der Trick: Jede Tassenfarbe steht für eine Zutat
Außerdem wichtig: Die farblich passenden Tassen werden immer wieder für dieselben Zutaten verwendet. Somit lernen die Bewohner im Laufe der Zeit, dass sich in der gelben Tasse stets Zucker befindet, Mehl in der roten und so weiter. „Menschen mit Demenzstufe 1 oder Anfang Stufe 2 können durchaus noch einiges wieder erlernen. Ähnlich wie Kinder Vokabeln lernen, gelingt dies über Wiederholung.“ Außerdem war Lehnhardt wichtig, dass in den Back- und Kochgruppen keine lauten Küchengeräte verwendet werden. Alle von ihr entwickelten Rezepte können mit einem Rührlöffel, dem Kneten per Hand auf dem Tisch oder einem Schneebesen zubereitet werden.

Da die Bewohner mit Demenz nicht mehr so gut dreidimensional sehen können, sind Farbkontraste besonders wichtig. „Wenn also eine braune Tischplatte genauso aussieht wie der braune Boden darunter, dann können die Bewohner das nicht mehr richtig unterscheiden“, verdeutlicht Ulrike Lehnhardt.

In der bei Ornamin erschienen „Back-Box“ hat sie dann noch Tipps festgehalten, wie man die Rezepte abwandeln kann. Diese Ideen kamen auch von den Bewohnern, die sich im Laufe des halben Jahres immer stärker öffneten und ganz nebenbei Dinge erzählten, die sie bisher keinem mitgeteilt hatten.
„Sie glauben nicht, wie viel Spaß das Zubereiten in der Gruppe machen kann“. Die Bewohner sagten auch immer, dass sie in den Kochclub gehen. Und auch wenn sich fast alle einige Tage danach nicht mehr daran erinnern konnten, was sie gekocht haben, wussten sie noch, dass sie gekocht haben. Die Pflegefachkraft meldete auch zurück, dass die Bewohner nach dem Backen bzw. Kochen noch viele Tage später ruhiger und wacher sind – ohne dabei umtriebig zu sein.

Kluft zwischen Wissenschaft und Praxis
Auch das Ziel, die Bewohner zu mehr Nahrungsaufnahme zu bewegen, wurde erreicht. „Einige der Teilnehmer haben sogar Nachschlag verlangt“, berichtet Lehnhardt. Hier gingen sicherlich die Empfehlungen der Ernährungswissenschaft und die Praxis oft auseinander. „Wenn wir die vom aid vorgeschlagenen Mengen an Gemüse einem Bewohner mit Demenz auf den Teller füllen, dann ist es oft zu viel für ihn. Am Ende isst er gar nichts, weil er weiß, dass, wenn er das Essen jetzt anrührt, aber nicht schafft, dieses dann weggeworfen werden muss. Aus diesem Grunde wählen wir kleinere Portionen aus und bieten an, dass der Bewohner einen Nachschlag bekommen kann.“

Hier kann natürlich mit einem Schöpfsystem sehr viel besser reagiert werden, denn die Essensvorlieben der Bewohner sind ja bekannt und so bekommt eben einer mehr Fleisch und der andere mehr Kartoffeln. Doch die Bewohner müssten oftmals erst lernen, Wünsche zu äußern, denn in der jetzigen Generation, die noch mindestens einen Weltkrieg erlebt hat, ist dies nicht sehr verbreitet.

„Und bedenken Sie immer, für die Heimbewohner fühlt es sich an, als müssten sie sieben Mal die Woche bei mehreren Mahlzeiten auswärts essen gehen. Das widerspricht sowohl ihrer als auch unserer Lebenserfahrung. Deshalb ist es so wichtig, die Bewohner bei der Zubereitung der Speisen mit einzubeziehen.“

Natürlich gibt es auch Heimbewohner, für die es fast eine Strafe wäre, wenn man sie zum Kochen und Backen zwingt. Schon bei der ersten Auswahl der Gruppenteilnehmer hat sich eine Teilnehmerin gleich am ersten Tag geweigert mitzumachen. Das müsse man akzeptieren und die Gruppe neu zusammenstellen.

Robert Baumann

www.ornamin.com

Mehr zum Thema lesen Sie in der rhw management-Ausgabe 5/2016

Foto: Ornamin

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