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Hinterm Stacheldraht

Wie sieht Behindertenhilfe in Südafrika aus? Im reichsten Land des Kontinents, der einst die Menschheit hervorbrachte, lässt sich ein funktionierendes System vermuten. Doch die Wahrheit spricht eine andere Sprache. Ein Besuch an einem Ort zwischen Apartheid, Aberglaube und Elend.

Margret Wannenmacher weiß, wie es ist, fremd zu sein. Als weiße Frau in einem Kleinwagen, allein im Township Ivory Park. Einem der ärmsten und gefährlichsten Stadtteile der Welt in Johannesburg, Südafrika. Ausschließlich dunkelhäutige Menschen leben dort. Sie braust vorbei an Wellblechhütten, die sich von Horizont zu Horizont erstrecken. Vorbei an Straßenverkäufern und Bettlern. An Kindern, die im Müll wühlen. Verfolgt von misstrauischen Blicken. Eine weiße Frau ist hier nicht willkommen.

Wenig später ist das vergessen. Dann sitzt Wannenmacher mitten im Township in einem Behindertenheim. Sie gibt einem schwerstmehrfachbehinderten Kind zu Essen. Eine dampfende, grünlich-gelbe Pampe aus Maisbrei, Bohnen und Fisch. Das Heim – Tumelo Home – (deutsch: Heimat des Glaubens) ist ein Zufluchtsort für Ausgestoßene.

Die zierliche Schwäbin mit den kurzen blonden Haaren nimmt den Weg auf sich, um zu helfen. Sie kennt gruselige Geschichten. Von Kindern, deren Eltern sie verkaufen wollten, weil sie behindert waren. Bestenfalls an Zuhälter. Wenn sie Pech hatten an Organhändler. Seit Wannenmacher vor zehn Jahren zum ersten Mal dort war, hat sie geholfen, dass solche Zustände der Vergangenheit angehören.

Dass die 66-Jährige auf die Einrichtung gestoßen ist, war Zufall. „Eine Freundin hat in einer anderen Behinderteneinrichtung in Johannesburg gearbeitet“, erzählt sie. „Als ich sie besuchte, führte eine ihrer Kolleginnen mich nach Tumelo.“ Eingezäunt hinter mannshohen Mauern thront das Heim wie eine Festung im Elendsviertel. Gebaut aus roten Ziegeln, ohne Putz, wirkt es im Vergleich zu den Häusern der Armen, die ein Herbstwind in Deutschland wegwehen würde, fast schon prächtig.

Trotzdem: Was Wannenmacher dort sah, schockierte sie. Körperlich behinderte Kinder mit spastisch verformten Armen und Beinen lagen auf Matratzen. Der Gestank biss in der Nase. Fliegen und Ratten überall. Die Pflegerinnen saßen tatenlos herum. Seitdem vergeht kein Tag, an dem Wannenmacher nicht irgendetwas für Tumelo tut. Das ganze Jahr über ackert sie von zu Hause aus und sammelt Spenden, „quasi als 50-Prozent-Stelle“. Etwa fünf Wochen pro Jahr verbringt sie in Johannesburg.

Die gute Seele des Heims
An einem Vormittag haben die Kinder etwas vorbereitet. „We love you, Mma Tumelo“, steht in bunten Buchstaben auf einem Bettlaken, verziert mit Hand- und Fußabdrücken. Wannenmacher stehen Tränen in den Augen. Mutter von Tumelo – das ist jetzt ihr afrikanischer Name. „Das war meine Idee“, sagt Sello Ramakwela. Die 26 Jahre alte Betreuerin hätte ohne Wannenmacher wohl keinen Job im Township gefunden.

Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Vor allem für junge Mütter wie Ramakwela gibt es kaum Perspektiven. „Mma Tumelo ist die gute Seele des Heims und wir danken Gott jeden Tag, dass er sie geschickt hat“, sagt sie. Deshalb war es auch kein Problem, dass die „weiße Lady“ Tumelo Home einmal auf links gedreht hat.

Zuerst kam Brenda Pillay. Wannenmacher stellte die Beschäftigungstherapeutin ein, die sich um die Ausbildung der Betreuerinnen kümmert. Unter ihrer Führung werden aus schüchternen Schulmädchen solide Pädagoginnen. Pillays Gehalt ermöglichen deutsche Spendengelder. Wenig später besorgte die Schwäbin einen Stromgenerator für das von vielen Ausfällen gepeinigte Heim.

Und dann ist da noch die Bäckerei. Untergebracht in einem Container im etwa handballfeldgroßen Hof. Mit Teigmischmaschine und Backofen. Mehr als 100.000 Euro hat sie bisher an Spenden zusammengekratzt, rechnet Wannenmacher vor.

Einige Kilometer von Tumelo entfernt geht es zu wie auf dem Pausenhof einer Grundschule. Erwachsene Menschen wuseln umher und schlendern Hand in Hand über die rote Erde auf dem Hof. Inmitten der Savanne steht dort eine Anlage wie aus dem Bilderbuch. Eingezäunt von meterhohem Maschendraht und bewacht von einem Sicherheitsdienst. Sechs einstöckige Häuser für jeweils etwa acht geistig-behinderte Bewohner sind von Blumen geschmückt.

Ein Pfau stolziert durch die Gärten. Im Sommer dürfen die Bewohner im Pool baden. Einige kehren Laub von der Straße, um ihr Heim für den südafrikanischen Frühling flott zu machen. Das ist ihr Beruf. Andere backen Brot und Kuchen, wieder andere nähen Pantoffeln für Hotels.
Christian Ignatzi

Mehr zum Thema lesen Sie in der rhw management-Ausgabe 9/2015

Foto: Thomas Wagner

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